Hans-Joachim von Kondratowitz hat die sozial- und verhaltenswissenschaftliche Alternsforschung geprägt, indem er die Geschichtlichkeit von Alter und Altern in den Mittelpunkt seiner Arbeit gestellt hat. Die Bedeutung von geteilten Wissensbeständen und Werten einer Gesellschaft – ihre Kultur – spielte eine zentrale Rolle in seinem Denken. Hans-Joachim von Kondratowitz starb am 19. November 2024. Sein Tod ist ein großer Verlust.
Hans-Joachim von Kondratowitz war durch und durch ein Berliner, im Gegensatz zu manchen anderen ein weltoffener und weltläufiger allerdings. Geboren in Steglitz, besuchte er das Humanistische Arndt-Gymnasium in Dahlem. Er studierte an der Freien Universität Berlin und der Washington University in St. Louis (USA) Politische Wissenschaft, Soziologie und Geschichte. Von 1974 bis 1981 war er Assistent am Lehrstuhl für Soziologie der TU München, wo er auch promovierte. Am Deutschen Zentrum für Altersfragen (DZA) verbrachte er von 1981 bis 2010 den größten Teil seiner beruflichen Laufbahn. Von 1997 bis 1999 vertrat er das Fach Soziale Gerontologie an der Universität Kassel. Im Jahr 2000 habilitierte er sich an der FU Berlin im Fach Soziologie [1] und wurde zum Privatdozenten ernannt. Zwischen 2014 und 2020 lehrte er an der Universität Vechta. Er engagierte er sich über lange Jahre in der International Association of Gerontology and Geriatrics, European Region (IAGG-ER). Dem Deutschen Zentrum für Altersfragen blieb Hans-Joachim von Kondratowitz nach seiner Pensionierung als Senior Consultant verbunden.
Alter und Kultur ist das Schlüsselthema des Werks von Hans-Joachim von Kondratowitz, und dieses Thema hält die Bereiche seines Schaffens zusammen. Die Kultur einer Gesellschaft, so die Grundannahme, bestimmt nicht nur den Status älterer Menschen, sondern beeinflusst auch Prozesse des Älterwerdens. In jedem seiner Schaffensbereiche taucht das Thema Kultur als konzeptuelle Klammer auf: Altern in historischer Perspektive, Altern im Kulturvergleich, Medizinsoziologie und Soziologie der Pflege, Alterssozialberichterstattung sowie theoretische Beiträge zur Gerontologie. Es ist der Zauber der Kultur, der die Werke von Hans-Joachim von Kondratowitz prägt.
Bereits in seinem ersten großen Beitrag zur sozialen Gerontologie, dem gemeinsam mit Christoph Conrad herausgegebenen Band „Gerontologie und Sozialgeschichte“ [2], kam er – basierend auf der Analyse deutschsprachiger Enzyklopädien, welche zwischen 1721 und 1914 veröffentlicht wurden, zur Erkenntnis, dass kulturell geteilte Überzeugungen nicht zwangsläufig durch gesellschaftliche Modernisierungsprozesse geprägt sind, sondern eigenständige Entwicklungen durchlaufen.
In ähnlicher Weise argumentierte er auch in seinen kulturvergleichenden Arbeiten. Das Opus Magnum seiner späten Jahre ist das Buch „Aging in the Mediterranean“, gemeinsam herausgegeben mit Joseph Troisi [3]. Der Mittelmeerraum umfasst nicht nur die nördlichen europäischen, sondern auch die südlichen nordafrikanischen Anrainerstaaten mit ihrer ganz unterschiedlichen, aber auch miteinander verwobenen Geschichte. Die Betrachtung eines größeren Spektrums von Kulturen zeigt die kulturelle Begrenzung dominanter Theorien der Alternsforschung, wie etwa der bereits erwähnten Modernisierungstheorie.
Ein weiteres Werk verdient es, hervorgehoben zu werden: „Valuing Older People: A Humanist Approach to Ageing“, ein gemeinsam mit Ricca Edmondson herausgegebener Band [4]. Hier wird Hans-Joachim von Kondratowitz gewissermaßen selbst zu einem treibenden Faktor des Kulturwandels, denn Ziel des humanistischen Ansatzes ist es, eine angemessene Kultur für ein gutes Altern zu schaffen, in der das Alter als wertvolle Lebensphase betrachtet wird und die Würde älterer Menschen respektiert wird.
Hans-Joachim von Kondratowitz‘ Beitrag zur sozialen Gerontologie ist hoch bedeutsam: Er war zur Stelle, wenn neue Fragen in der sozialen Gerontologie der Vernetzung bedurften und führte internationale Forschungsdebatten in die deutschsprachige Gerontologie ein. Mit seinen Beiträgen beeinflusste er gleichaltrige und jüngere Weggefährten in seinem ausgedehnten nationalen und internationalen Netzwerk. Das Deutsche Zentrum für Altersfragen (DZA), eine Ressortforschungseinrichtung, ermöglichte ihm die langjährige Beschäftigung mit den Themen Alter, Geschichte und Kultur, wobei er stets den Blick auf aktuelle gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen lenken sollte.
Auch als Person war Interesse an der Kultur wesentlich für Hans-Joachim von Kondratowitz, ja war Kern seiner Persönlichkeit. Ein Leben ohne Musik, Oper, Theater und Film war undenkbar. Mit seiner Zugewandtheit und seinem Charme hat er viele Menschen bezaubert.
Mit ihm hat die Alternsforschung einen originellen Denker verloren, einen kritischen Gerontologen, der die kulturelle und geschichtliche Bedingtheit des Altwerdens und Altseins in den Mittelpunkt seines Werkes gestellt hat. Erst in der Rückschau erkennen wir oft, wie prägend ein Mensch für die eigene akademische Entwicklung war. Hans-Joachim hat mir den Zauber der Kultur vorgelebt, in der Forschung, aber auch im Leben. Ich verliere einen Kollegen und Freund, mit dem ich – bis zuletzt zwischen Du und Sie wechselnd – tief verbunden war.
Clemens Tesch-Römer, Januar 2025
[1] Kondratowitz, H.-J. v. (2000). Konjunkturen des Alters. Die Ausdifferenzierung der Konstruktion des "höheren Lebensalters" zu einem sozialpolitischen Problem. Regensburg: Transfer-Verlag.
[2] Conrad C. & Kondratowitz, H.-J. v. (Hrsg.). (1983). Gerontologie und Sozialgeschichte. Wege zu einer historischen Betrachtung des Alters. Berlin: Deutsches Zentrum für Altersfragen.
[3] Troisi J. & Kondratowitz, H.-J. v. (Eds.) (2013). Ageing in the Mediterranean. Bristol: Policy Press.
[4] Edmondson R. & Kondratowitz, H.-J. v. (Eds.) (2009). Valuing older people. A humanist approach to ageing. Bristol: Policy Press
Eine Langfassung dieses Nachrufs auf Deutsch und Englisch findet sich hier: Tesch-Römer, C. (2025). Zauber der Kultur. Zum Tod von Hans-Joachim von Kondratowitz / Enchantment of Culture. On the Death of Hans-Joachim von Kondratowitz [DZA Aktuell 01/2025]. Berlin: Deutsches Zentrum für Altersfragen. doi.org/10.60922/05ec-tg59.